Ellen Willis und Ann Powers

DAS ENTHEMMTE WISSEN
IN ROCK KRITIK UND CULTURAL STUDIES

Ellen Willis ist Professorin für Journalismus an der New York University und schreibt eine regelmäßige Medien-Kolumne für die "Village Voice". In ihren Essay-Kolumnen formuliert sie die Widersprüche aus, die sich seit den 60ern in Sub- und Massenkultur aufgetan haben.

Ann Powers steht als Musikredakteurin bei der "Village Voice" in der Tradition von Ellen Willis, und hat mir ihr zusammen das Buch "Rock she wrote - Women write about Rock" herausgegeben.

Dir eilt der Mythos voraus, die erste seriöse Rock-Kritikerin der USA gewesen zu sein. Gab es damals in den späten 60ern keine Frauen außer dir, die über Musik und Popkultur geschrieben haben?

ELLEN WILLIS: Es gab in den frühen 60ern nicht so viele, aber natürlich auch andere Frauen als mich. Oft waren das Frauen, die versucht haben Brücken zu bauen zwischen Jazz und Pop. Einflussreich bis auf den heutigen Tag sind vor allem Lisa Robbinsons Szene-Reportagen. Ich war in einer Gruppe von Leuten, im Umfeld von Bob Dylan, die die Sechziger Jahre auf eine ästhetische Kritik der Massen-Kultur hin untersuchten. Es war uns völlig klar, dass es darum ging, das ganze Unternehmen Rock-Kritik zu ändern. Zum Beispiel die Art, wie Leute Popmusik und -kultur wahrnehmen. Wir wollten zeigen, dass es nicht mehr so einfach ist: Du bist hier und ein Objekt ist da und jetzt kritisierst du das mal. Stattdessen ging es uns darum, die Freiheit, die in der Musik ist, herauszuarbeiten.

Du hast dich oft zu dem Prozess geäußert, als leidenschaftliche Rock-Autorin anzufangen, darüber Feministin zu werden, und die Musik-Sache dann nicht mehr so ernst zu nehmen. Ich habe das auch als Warnung gelesen und mir bei der Lektüre geschworen, Musik immer wichtiger zu nehmen.

ELLEN WILLIS: Mir war die Tatsache, dass Frauen wenig gesellschaftlichen Einfluss haben, schon bewusst, bevor ich anfing, mich mit Musik zu beschäftigen, eigentlich schon bevor es überhaupt eine Frauenbewegung gab. Als ich anfing meine Kolumne für den "New Yorker" zu schreiben, sagte der zuständige Redakteur zu mir: Würde es dir etwas ausmachen, unter deinen Initialen zu schreiben, wir haben schon zu viele Frauennamen im Heft (lacht)?
Vor meiner Beschäftigung mit feministischen Issues hatte ich nie selbstbewusst über die Tatsache nachgedacht, dass Rock als musikalische Form, als Industrie, als Performance, als Kritik, eine total männliche Angelegenheit ist. Es nicht mal so, dass mir der Sexismus in der Szene nicht aufgefallen wäre, ich habe mir nur nichts dabei gedacht.


DAS "TRIVIALE" UND DAS "SERIÖSE"
Diese Einsichten werden in deinen Texten aber noch durch viele andere Hauptwidersprüche relativiert, was eine dialektische Auffassung von Ästhetik und Sozialem ergibt.

ELLEN WILLIS: Ja, auch die feministische Theorie hat mich vor allem vor ästhetische Probleme gestellt, die ich zuvor nicht hatte. Wie geht man um mit Widersprüchen in der Kunst, mit den vielen vermischten, unterschiedlichen Aussagen, innerhalb ein und desselben Produkts. Trotz vieler traditioneller kultureller Muster - wie z.B. der Idee männlicher Aggression und weiblicher Unterwerfung - gab es doch auch Aspekte in der Musik - free your body, free your soul - die mir genauso wichtig waren. Mit der Zeit wurde mir klar, dass der gesamte Bereich populärer Kultur eben das populäre Wissen seiner Zeit widerspiegelt.

Auf welche Art und Weise seid ihr bisher mit der Frage konfrontiert worden, ob Frauen anders schreiben als Männer?

ANN POWERS: Ich habe Kolleginnen, die der Meinung sind, dass die Geschmackskriterien, die männliche Kritiker ausgebildet haben, nicht die ihrigen sein müssen. Ich komme hingegen eher in Schwierigkeiten, wenn ich über die Erfahrungen weiblicher Sozialisation schreibe; über Groupies, über Fans, Publikumsanalyse. Viele Leute - egal ob Frauen oder Männer - finden gerade Texte dieser Art anrüchig! Denn es gibt eine Auffassung von Gleichheit und Emanzipation, die mit Seriosität zu tun hat, demgegenüber steht eine landläufige Auffassung von Weiblichkeit, die mit trivialen Dingen assoziiert wird. Und ein Strang des popfeministischen Schreibens versucht, diese weiblichen Alltags-"Trivialitäten" zu überbrücken, ein anderer Strang versucht, eben beides zu verbinden, zu integrieren.

ELLEN WILLIS: Ich denke, es gibt einen grundlegenden kulturellen Code: Öffentlichkeit versus Privatheit, Intellektualität versus Emotionalität. Wobei Privatheit und Emotionalität dabei für weibliche Prinzipien stehen. Und ich fühle, dass ich in die Rock-Kritik aus beiden Richtungen reingegangen bin. Zum Beispiel dadurch, dass ich im selben Kritik-Stil über "persönliche" oder "emotionale" Dinge geschrieben habe, als auch über sogenannte öffentliche Angelegenheiten. Ich habe emotionale Sachen so dargestellt, als wären diese Dinge wirklich Politik und all das. Aber ich bin auch dafür kritisiert worden, zu abstrakt und intellektuell zu sein, das sei doch die männliche Art mit Dingen umzugehen - was wirklich lächerlich ist, weil es den Schluss zulässt, dass man Frauen immer noch nicht erlaubt, ein Argument zu bringen.


DAS "AKADEMISCHE" UND DAS "POPULÄRE"
Wie würdet ihr eure Texte beschreiben? Als Schnittmenge aus Rock-Kritik und Cultural Studies? Oder einfach nur als Rock-Journalismus, der ja immer auch analytisch, selbstreflexiv, wissenschaftlich sein konnte?

ELLEN WILLIS: Trotz meiner Tätigkeit als Journalismus-Professorin fühle ich mich als Rock-Kritiker. Ich denke, dass die Cultural Studies in Amerika ohne Rock-Kritik nicht möglich gewesen wären. Viele Ideen, die im seriösen Popkultur-Journalismus der mittleren und späten 60er Jahre angelegt waren, sind später von der Akademie aufgenommen worden und haben den netten Namen "Postmoderne und Theorie" gekriegt.

ANN POWERS: Genau. Auf dem College war ich extrem genervt davon, dass meine Professoren und Mitstudenten diesen Kultur-Journalismus nicht kannten. Sie kannten jedes Stückchen Theorie oder die Birmingham School-of-Cultural-Studies, aber sie hatten zum Beispiel noch nie etwas von Ellen gelesen! Und es war daher nur logisch, dass sie ihre eigenen Schriften diesem hochtheoretischen Stil anpassten. Diese Trennung zwischen dem Akademischen und dem Populären geht also weiter, und ist keinesfalls aufgehoben. Jetzt, da ich in der populären Presse arbeite, habe ich einen Ruf als akademisch-journalistische Autorin, aber ich könnte niemals einfach irgendwo als Dozentin hingehen und unterrichten. Es ist nicht immer einfach Orte zu finden, an denen wir unsere Arbeiten, die gleichzeitig populär und intellektuell sind, veröffentlichen können.

Was sind Eure Lieblings-Cultural-Studies-Bücher? Welche Autoren können Eurer Meinung nach die Balance aus fundierter Theorie-Skizze, detaillierter musikologischer Beschreibung und reflektiertem Lebensbericht?

ANN POWERS: Ich mag Dick Hebdiges Bücher sehr, ich mag Angela Mc Robbies Texte über "Rock und Sexualität", ich mag Stanley Aronowitz` "Dead Artists, live Theories", es ist zwar nicht direkt ein Buch über Rock, aber er sagt eine Menge toller Sachen über Rock-Kritik.

ELLEN WILLIS: Ich mag Sara Cohens mehr ethnographische Studien über die Dynamiken junger Rock-Szenen, ich mag Robert Walsers "Running with the devil"- Buch über Macht, Gender und Wahnsinn im Heavy Metal.

Was denkt Ihr über Simon Reynolds/Joy Press neues Buch "Sex Revolts"? Es wendet die Kategorien, die in poststrukturalistischen Gender-Debatten entwickelt wurden, doch sehr konsequent, vielleicht etwas zu ambitioniert, auf die Geschichte der Rockmusik an.

ANN POWERS: Ich stimme nicht ganz mit ihrer Einschätzung der Rockstrukturen überein. Sie gehen immer davon aus, dass Rock als männliche Rebellion gegen Frauen bzw. Mütter startete. Und dass Frauen in der Musik wiederrum gegen dieses Rebellion rebellieren. Das ist mir zu psychoanalytisch, zu sehr over the top.

Das mag sein. Aber mich begeistert einfach, dass sie über Rockmusik jenseits der antagonistischen Punk/Hippie-, Rebellion/Frieden-, Anti Autoritäten/Pro Anpassung-Dialektik schreiben.

ANN POWERS: Es ist von allen momentan in diesem Themenfeld publizierten Büchern, sicherlich dasjenige, das die Zeit überdauern wird. Und es enthält das beste, was je auf der Welt über die Throwing Muses geschrieben wurde.

(SPEX, Juli 1995)